Social Distancing – Fluch oder Segen?

Eine Betroffene von Sozialer Phobie über die Corona-Maßnahmen

“Das alltägliche soziale Miteinander ist eine immer wiederkehrende Herausforderung für Menschen mit sozialen Ängsten. Überfüllte Geschäfte zu betreten und dabei im Slalom um andere KundInnen auch noch das Beratungsgespräch mit MitarbeiterInnen zu meiden, ist mindestens genauso stressig wie die Geburtstagsfeier des besten Kumpels, der lauter mir unbekannte und dafür sehr kommunikative Freunde eingeladen hat.

Da scheint uns, die wir nur allein oder in Gesellschaft von sehr vertrauten Menschen richtig entspannen können, das Gebot zu “Social Distancing” doch direkt in die Hände zu spielen. Meetings mit zehn KollegInnen finden nicht mehr in stickigen Büros, sondern in virtuellen Räumen statt, und mit etwas Glück muss ich als Studentin bei einer Online-Vorlesung nicht einmal Webcam und Mikrofon einschalten. Zeit, die sonst ausgiebig für das Planen von Vermeidungsstrategien ver(sch)wendet wurde, kann ich nun nutzen, um Aktivitäten nachzugehen, die mich keine Überwindung kosten. Sogar auf die Fahrkartenkontrolle im Zug wurde für ein paar Wochen verzichtet; während der Fahrt konnte ich also innerlich abschalten und meinen Gedanken nachgehen, ohne mich gedanklich auf die kurze soziale Interaktion vorzubereiten. Ein Sitzplatz ohne Blick- und Körperkontakt ist mir dabei ebenfalls sicher.

Nicht zuletzt wäre da mein Freundeskreis. Obwohl ich weiß, dass mir Kontakt zu Bekannten und Freundinnen am Ende meistens doch guttut, müssen sie damit rechnen, dass ich Treffen kurzfristig doch noch absage oder langfristig gar nicht verbindlich ausmache. Je nachdem, wie nahe mir die Person steht, erkläre ich mich mit Worten auf einer Skala von Wahrheit bis Notlüge. Unter der Überschrift “Corona” hat sich auch das komplett verändert. Regelmäßige Verabredungen werden gar nicht mehr vorausgesetzt. Während jeder zu Hause seinen Dingen nachgeht, wird das Wiedersehen in eine noch nicht näher definierte Zukunft verschoben. Im Prinzip also der Traum der Sozialphobiker, oder nicht?

Da aber Wege gefunden werden müssen, wie sich die Menschen “um die Pandemie herum” arrangieren können, tauchen Lösungsstrategien auf, die neue Herausforderungen sein können. Abstandsregeln sind schön und gut, das bedeutet aber auch, dass ich nicht mehr ungesehen in den Supermarkt huschen kann, sondern dabei genau darauf geachtet wird, dass ich Einkaufswagen oder –korb mitnehme. Gespräche in lauten Räumen dauern oft doppelt so lang, da dank des Mund-Nasen-Schutzes akustisch kaum etwas verstanden wird. Zusätzliches Material für das Grübeln darüber, was der oder die andere wohl von mir denkt, liefert die Tatsache, dass ich die Mimik unter der Maske kaum noch entschlüsseln kann. Und muss ich mir nicht eigentlich darüber Sorgen machen, ob meine KollegInnen darüber reden, dass ich die Maßnahmen versehentlich nicht eingehalten habe?

Zu allem Überfluss kommen manche meiner Freundinnen nun auf die Idee, dass wir statt eines persönlichen Treffens auch “mal wieder telefonieren” könnten. Auch wenn ich es selbst bis heute nicht ganz verstehe – Telefonate sind für mich aversiver als früher Mathestunden oder Hausarbeit! Weil ich meine Freundin aber doch deutlich vermisse, springe ich über meinen Schatten und nehme den eingehenden Anruf an. Resultat: zwei Stunden herrliches Gespräch mit Anna, die ich schon seit meiner Kindheit kenne und die nun in Kanada wohnt. Weitere tolle Unterhaltungen mit einer genialen ehemaligen Schulfreundin.

Ob systemrelevant oder nicht – auf eine gewisse Art ist jede(r) von uns abhängig von der Gesellschaft. Und was viel wichtiger ist: Wir brauchen das Miteinander und den Kontakt. Dass ich jeden Tag aufs Neue herausgefordert werde, ist gut. Meine Befürchtungen, dass andere schlecht über mich denken, stellen sich in 99% der Fälle als unnötig heraus. Ob Social Distancing für mich ein angenehmer Wandel ist oder der Kommunikation nur ein anderes Medium gibt, ist fraglich. Fest steht, dass ich lerne, wie es mir gut damit geht.

Die soziale Interaktion wird weitergehen – und das ist auch gut so.”

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin.